Dienstag, 20. November 2012

Das Regime der Neurose

Das Zeitalter Freuds ist auch das Zeitalter der Neurosen. 
Im Wahn der Psychoanalyse findet man in jedem Probleme und Ursachen mithilfe des Zauberworts “Neurose”. So schematisch, wie man Wassertiere als Fische oder Wälder als simple Baumakkumulation (ja, ich mag das Wort) bezeichnet, findet man Gründe für Charakterschwächen oder Unsicherheiten in von verdrängten Erinnerungen geborenen Blockaden und unbewußten Störungen. 
Allerdings wird diese Schwemme an freud-/selbstgemachten Problemen mit dem Alter der Theorie immer stärker, da es inzwischen nicht mehr Randerscheinung oder Trend, sondern Tradition ist, andere zu beurteilen und, zumindest in gehobeneren Kreisen, zu hinterfragen. 
Doch das ist noch das kleine Übel. Inzwischen wird man von der Ramschinformationsschwemme mit potenziellen Neurosenkeimen geradezu bombadiert, weshalb wahrscheinlich der Bedarf an Psychologen nie abnehmen wird.

Dienstag, 13. November 2012

Misanthropie eines sozialisierten Eremiten


Die letzten Monate hatte ich bereits das drängende Empfinden, mich wieder an einen Blog zu setzen. Eine polemische Wutpredigt über die vielen falschen Dinge in dieser Welt. Ein Trauergesang ob der düsteren Zukunft dieses Planeten. Ein Wachrüttler mit offensichtlichen Einblicken, auf die sonst niemand schaut.
Aber mich bewegt zurzeit das Private, die eigene Situation. Prinzipiell hat sich da auch nichts geändert, nur einige Parameter hat es verschoben, sodass das emotional-soziale Labyrinth, in dem ich seit Jahren umherirr, etwas lichter und verständlicher wurde. Die Einsicht schlummerte bereits, doch nun steht sie geweckt und klar vor einem.
Ich konnte mich immer leicht durchs Leben treiben lassen. Es gab nur Herausforderungen, keine Probleme. Und wenn, hat man Letzteres rücksichtslos allein überwinden wollen. Die Schlussfolgerung, dass ich nie, zumindest in großen Dingen, gescheitert wäre, redete ich mir selbstgefällig ein. Das ich damit allerdings einfach einen, wenn nicht sogar den wichtigsten Bestandteil des Lebens ausblendete, war mir nie wirklich bewusst. In sozialen Belangen ruhte ich mich auf einen stabilen Freundeskreis, eine glückliche Patchwork-Familie und eine handvoll potenzieller Partner aus.
Als die Diversifikation der Bande begann, der neue Stiefvater in spe nicht mehr auf selber Wellenlänge funkte und ich vermehrt Opfer meiner Gefühle wurde, begann diese soziale Sicherheit zu bröckeln. Doch statt durch Aktivität familiäre Bruchstellen zu kitten oder konsequent auf Gedeih und Verderb meinem Herz zu folgen, ließ ich mir meine soziale Energie durch ständige Bereitschaft für den geteilten Freundeskreis entziehen. Ob ihnen meine Probleme je bewusst oder interessant waren, habe ich nie erkundet, es war mir meist mehr Last als Entlastung, derlei Dinge anzusprechen. Nicht wegen sprachlicher Barrieren, sondern aus Rücksicht, niemandem mein Päckchen aufladen zu wollen. 
So war und bin ich an Menschen gebunden, die mich ständig, aus Gewohnheit, fordern. Und nun fühle ich Argwohn bei dem Gedanken, dass sie mir nicht von selbst Gefälligkeiten anbieten. Aber wieso sollten sie auch.
Man muss einfach fordern, zugreifen, nehmen, was man will. Genauso wenig, wie einem Wachteln in den Mund spazieren, werden sich andere Menschen ungefragt mit den Nöten anderer beschäftigen. 
Leider ist das meine romantische Vorstellung menschlicher Bindung. Wer nie fordert, darf sich schlussendlich nicht wundern, dass selbst kleine Bitten Überwindung kosten und den Bittsteller in eine unangenehme Situation rücken. Obwohl man auf ein dickes soziales Haben bauen kann, fühlt man sich schuldig. Nur weil man es nicht gewohnt ist, um eine Gefälligkeit zu bitten, betrachtet man es nicht als Selbstverständlichkeit. Und dementsprechend kommt es beim Gegenüber nicht als selbstverständlich an.
Ein soziales Ungleichgewicht entsteht, welches paradoxerweise immer die Rücksichtsvollen trifft. Wer sich um die Meinung oder das Empfinden Anderer weniger schert, wird nie zum demütigen Bittsteller, bekommt aber Bitten dafür umso einfacher erfüllt. Belegt man allerdings jeden Gefallen mit dieser erdrückenden Schwere des Schuldgefühls, fällt es auch dem Gegenüber schwerer, die Bitte als die Banalität zu betrachten, die sie eigentlich darstellt. 
Wer vor lauter Rücksicht nicht mehr nach vorne schauen kann, soll sich nicht wundern, dass man die nicht mehr sieht, die unbeirrt voranschreiten.
Was ist also die Schlussfolgerung? 
Sollte man wirklich mehr an sich denken, egoistischer werden, ja quasi ein Arschloch, einfach um befreiter handeln zu können und wieder mehr Menschen zu erreichen?
Sollte man wirklich eine doch löbliche, wenn auch belastende Eigenschaft lieber begraben, bevor sie einen begräbt?
Oder sollte man sich der drohenden sozialen Isolierung einfach kampflos preisgeben und sich wieder seinem misanthropen Eremitendasein zuwenden, emotionsloser Stoa huldigend?